570 Biowissenschaften; Biologie
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Spektakulär sind die Fortschritte, die die Genomik in jüngster Zeit erreicht hat. Populationsgenetische Studien verwenden die Daten aus der heutigen Bevölkerung und beziehen diese auf vergangene demografische Vorgänge; doch auch altes Skelettmaterial wird für Deutungen der Vergangenheit herangezogen. Nicht nur die Fachwelt, sondern auch eine breite Öffentlichkeit erhofft sich dadurch neue Aufschlüsse über die Identität von Menschen in Gegenwart und Vergangenheit. Doch einige dieser Arbeiten laufen Gefahr, die Fehler eines Reduktionismus zu wiederholen, der in der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts dem Rassismus Vorschub geleistet hat.
Der amerikanische Mittelalterhistoriker Patrick J. Geary sucht für seine Auswertung von Genomdaten der Völkerwanderung die Zusammenarbeit mit Archäogenetikerinnen und Archäogenetikern und stellt in seinem Essay grundlegende Fragen zur historischen Nutzung dieses Materials: Wie können Genomdaten so mit der bekannten schriftlichen Überlieferung verbunden werden, dass sich grundlegende historische Prozesse wie Migration und sozialer Wandel neu interpretieren lassen? Und kann auf dieser Grundlage unser Verständnis der jüngeren Vergangenheit vertieft werden?
Evolutionary Medicine and its Holistic Concept of Health. Recent years have seen tremendous advances in our understanding of biological processes on genomic, cellular, and evolutionary levels.We owe this progress in great part to modern genetic techniques, steady improvements in imaging technology, and ground-breaking molecular tools.These findings not only helped turning Darwin’s hypothesis on the origin of species into an exact science, they also require us to integrate the complex interactions between biology, environment, and behavior into our ways of thinking. As a result, a new scientific rationale for a holistic concept of health and disease emerged: Evolutionary Medicine. The holistic approach of Evolutionary Medicine provides a new perspective on human biology: Why are people so frail, why do we get sick? Most importantly, it helps us comprehend how to better preserve health – as opposed to merely focusing on the treatment of diseases. For example, it is the misalignment between our evolutionary ‘old’ biology and our fast-changing, man-made environment (e. g., urbanization and nutrition with processed food) that helps to comprehend the emergence of civilization diseases.
The Concept of Health in Immunology and Infection Biology: Nine Opportunities for the Future. Looking at our individual immune systems, one might get the impression that health is mostly a personal matter. However, infection biology immediately points to the fact that health is the outcome of a global joint effort undertaken not only by all humans, but actually by all living beings. From the very large to the very small, health is based on a fragile balance and the successful collaboration of numerous single entities in a highly sensitive and complex network that connects our innermost world with that of the outside. Diseases have been with us forever, and in the course of time, they shaped our political and cultural community. Yet, they also are one of the main drivers of evolutionary development. In that capacity, they have promoted progress from simple life forms to complex beings, i. e., ourselves. Thus, health can also be seen as the product of innumerable tiny coincidences. Politics, academia and society should ensure prevention of future detrimental (or harmful) coincidences with such tragic outcomes.
One Health and Human-Animal Relationships: Do We Make Our Animals Sick? Since the very beginning of human-animal relationships, humankind took advantage of animals, as of nature in general. While many people today perceive themselves as animal-loving, in reality we tend to systematically deprive our farm animals and pets of their own nature and health. On our quest to perfect our exploitation of the animal world, we reached a dimension that started to profoundly worry veterinary professionals, animal welfare activists, and also the informed public. Ultimately, this destructive relationship leads to detrimental consequences for both parties: e. g., the extinction of wild animals, or the transmission of diseases from one to the other. However, one could argue that the suffering we cause to animals clearly and by far exceeds the harm caused by, for example, the animal-derived COVID-19. Is this a too provocative hypothesis? This article is an invitation to take a closer look at various facets of our current humananimal relationship with its consequences for both.
Im „Fünften Gentechnologiebericht“ bieten namhafte Expertinnen und Experten einen Überblick über aktuelle Entwicklungen des dynamischen Forschungsfeldes der Gen- und Biotechnologien und ihrer Anwendungen. In den Bick genommen werden u. a. genetische Diagnostik, somatische Gentherapie, Impfstoffentwicklung, Stammzell- und Organoidforschung, Grüne Gentechnik, Synthetische Biologie, Gene Drives, Genome-Editing, Epigenetik und Einzelzellanalyse. Neben Sachstandsberichten werden auch die gesellschaftliche Wahrnehmung der Gentechnologien sowie ethische und rechtliche Fragen erörtert, u. a. zu Genome-Editing, Hirnorganoiden und Big Data in der personalisierten Medizin. Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe Gentechnologiebericht gibt außerdem Handlungsempfehlungen zu zentralen Themen.
Die Gentechnologien bergen auch 20 Jahre nach der Gründung der IAG Gentechnologiebericht eine gesellschaftliche Sprengkraft, bedingt durch eine hohe wissenschaftliche Dynamik, die immer stärker von der Grundlagenforschung in die Anwendung dringt. Neue Methoden, z. B. des Genome-Editing, beschleunigen zudem die Entwicklung und beeinflussen dabei alle gentechnischen Forschungs- und Anwendungsbereiche. Die IAG hat die unterschiedlichen Gentechnologien mit ihren jeweiligen Anwendungsbereichen getrennt in den Blick genommen. Beobachtet wurden insbesondere die Stammzell- und Organoidforschung, die Epigenetik, die Gendiagnostik, die Einzelzellanalytik, die somatische Gentherapie, die Grüne Gentechnologie und die synthetische Biologie. Nach 20 Jahren Laufzeit der IAG werden im Folgenden die aktuell als zentral angesehenen Entwicklungen und darauf bezogene Handlungsempfehlungen für die genannten Themenbereiche zusammengefasst.
1. Einleitung
(2021)
Der Initiator und langjährige Sprecher, derzeit stellvertretende Sprecher, der Interdisziplinären Arbeitsgruppe (IAG) Gentechnologiebericht der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Ferdinand Hucho, präsentiert in seinem Spotlight deren Tätigkeit, insbesondere das Monitoringsystem. Dabei stellt er zunächst das der Arbeit der IAG zu Grunde liegende Verständnis von Monitoring als das eines Observatoriums vor, das über Kernaussagen und Handlungsempfehlungen an die Politik auch beratend tätig sei. Anschließend diskutiert er die Indikatorenanalyse, als ein Alleinstellungsmerkmal der IAG und Messinstrument des Gentechnologieberichtes. Dabei werde anhand messbarer Teilgrößen wie z. B. die Anzahl an Publikationen, Fördermitteln und Veranstaltungen zu Gentechnologien deren Relevanz in Deutschland konkretisiert und fassbar gemacht. Ergänzend trete die Problemfeldanalyse hinzu, die anhand der wissenschaftlichen, ethischen, sozialen und ökonomischen Dimension die Relevanz bestimmter im öffentlichen Diskurs identifizierter Probleme sichtbar mache. Zum Schluss werden Hinweise für die Durchführung von Monitoringprojekten zu anderen Themen aus den Erfahrungen abgeleitet.
Die Epigenetik hat sich Jörn Walter und Nina Gasparoni zufolge in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu einem Kernfach der Lebenswissenschaften entwickelt und eine breite Strahlkraft in nahezu alle Bereiche der Biologie und Biomedizin entfaltet. Epigenetiker*innen erforschen die Gensteuerung während der individuellen Entwicklung (Ontogenese), der Vererbung, von Gen-Umwelt-Interaktionen und von Erkrankungen wie z. B. Krebs. Als „Epigenetik“ wird die zellspezifische Genregulation bezeichnet, also diejenigen Prozesse und Mechanismen, die keine Veränderung der genetischen Information selbst bewirken, sondern ihre Zugänglichkeit bzw. Ablesbarkeit modifizieren. Epigenetische Mechanismen steuern auch Prozesse der Chromosomenorganisation im Zellkern sowie der Chromosomenstabilität. Epigenetische Veränderungen können nur kurzfristig oder auch langfristig bestehen und sind im Gegensatz zu genetischen Mutationen reversibel. In bestimmten Konstellationen von Tierversuchen und bei Pflanzen konnten sogar an die nächste Generation vererbbare Effekte nachgewiesen werden. Ob bestimmte epigenetische Änderungen auch beim Menschen an die nächste Generation vererbbar sind, ist innerwissenschaftlich umstritten. Auch diese Kontroverse wird von den Autor*innen kurz dargestellt.
In ihrem Sachstandsbericht erläutern Jörn Walter und Nina Gasparoni zunächst die allgemeine Bedeutung und molekularen Grundlagen der Epigenetik. Dabei gehen sie u. a. auf Histon-Modifikationen und deren genomweite Kartierung ein, auf Basis dessen sich das Genom in funktionell unterschiedliche Bereiche einteilen lässt. So werden Einblicke in die funktionelle epigenetische Umprogrammierung erkrankter Zellen im Vergleich zu gesunden möglich. Des Weiteren befassen sie sich mit den Mechanismen der DNA-Methylierung, mit nicht-kodierenden RNAs und dem neu entstehenden Forschungsgebiet der Epitranskriptomik. Im Anschluss geht es um epigenomische Technologien und deren perspektivische therapeutische Einsatzmöglichkeiten. Hier stehen die Epigenomik, also die genomweite Kartierung epigenetischer Veränderungen mithilfe neuer NGS-Technologien, und die Interpretation der hochkomplexen, vielschichtigen Epigenomdatensätze im Vordergrund sowie die damit verbundenen Herausforderungen an die Darstellung, bioinformatische Auswertungstechniken und Datenbankstrukturen. Internationale Forschungsnetzwerke haben zur Lösung der Probleme und zur internationalen Nutzbarmachung der Epigenomdaten im Kontext der Grundlagen- und klinischen Forschung beigetragen. Die vorgestellten epigenetischen Therapieansätze zielen darauf ab, „fehlerhafte epigenetische Veränderungen in lebenden Zellen so umzuprogrammieren, dass Zellen in einen gesunden Grundzustand zurückgeführt werden“, und werden teilweise in der Krebstherapie bereits unterstützend eingesetzt. Zielgerichteter ist die Epigenomeditierung, wobei nicht genomweit, sondern nur an bestimmten Genen eine epigenetische Umprogrammierung und dadurch zelluläre Funktionsveränderung ausgelöst wird. Zum Schluss diskutieren der Autor und die Autorin die Nachhaltigkeit epigenetischer Veränderungen und künftige Perspektiven epigenetischer Forschung.
Im Sachstandsbericht von Stefan Mundlos werden die technischen Möglichkeiten der genetischen Diagnostik von den Anfängen mit Zytogenetik und sog. Sanger-Sequenzierung bis hin zur Revolution des Gebietes durch automatisierte Hochdurchsatzsequenzierungen (Next Generation Sequencing), der gleichzeitigen Analyse von Millionen DNA-Fragmenten, vorgestellt mit Blick auf ihre Funktionsweise, Vor- und Nachteile und diagnostischen Einsatzmöglichkeiten. Dabei geht der Autor auch auf Ganzgenomsequenzierungen, die Analyse genetischer Varianten und die Interpretation der erhobenen Daten ein. Anschließend werden gesetzliche Regelungen sowie Abrechnungsmodalitäten und der Zugang zu genetischer Diagnostik im deutschen Gesundheitswesen thematisiert. Auch Grenzen, Probleme und ethische Aspekte der Gendiagnostik werden erläutert, darunter die Uneindeutigkeit und Wahrscheinlichkeitsbasiertheit genetischer Daten sowie damit einhergehende Interpretationsschwierigkeiten. Angesichts dessen sowie von Zufalls- und Zusatzbefunden plädiert der Autor für eine Einschränkung auf klinisch begründete und notwendige Tests, eine Risiko-Nutzenabwägung und einen Vorrang der individuellen Selbstbestimmung. Zum Schluss wird das Ziel vorgestellt, eines Tages alle seltenen Erkrankungen diagnostizieren zu können, um den Patient*innen Jahre der Ungewissheit und falscher Therapien zu ersparen. Bis dahin müsse jedoch noch viel geforscht werden.
In ihrem Sachstandsbericht geben Martin Zenke und Sina Bartfeld einen Überblick über gegenwärtige Entwicklungen der Stammzell- und Organoidforschung. Stammzellen werden definiert als Zellen, die sich sowohl vermehren als auch spezialisierte Zelltypen bilden können und eine zentrale Rolle bei der Embryonalentwicklung sowie der Aufrechterhaltung und Reparatur von Organen und Geweben spielen. Stammzellen sind auch Ausgangsmaterial zur Herstellung von Organoiden, dreidimensionalen, organähnlichen Zellverbänden, die in erster Linie als Modelle von Organen und damit der Erforschung ihrer Entwicklung und Erkrankungen dienen. Der Autor und die Autorin unterscheiden zunächst verschiedene Stammzelltypen, zum einen nach ihrem Entwicklungspotenzial, zum anderen danach, ob sie „natürlich vorkommen (konventionelle Stammzellen)“ oder „künstlich hergestellt (engineered)“ werden. Bei Letzteren handelt es sich bspw. um induzierte pluripotente Stammzellen (sog. iPS-Zellen), die aus Körperzellen durch Zugabe bestimmter Faktoren in einem als „Reprogrammierung“ bezeichneten Prozess generiert werden. Zur Bedeutung des Genome-Editing mit CRISPR/Cas für die Stammzellforschung wird hervorgehoben, dass gezielte genetische Veränderungen an Stammzellen bei den aus ihnen gewonnenen Zellen bestehen blieben. Dies könne u. a. für die Herstellung spezifischer Krankheitsmodelle für die Medikamentenentwicklung genutzt werden. Zudem werden blutbildende (hämatopoetische) Stammzellen, Stammzellen aus Nabelschnurblut, mesenchymale (Bindegewebs-) Stammzellen und neurale Stammzellen mit Blick auf ihren Ursprung, ihren gegenwärtigen Einsatz und ihr Potenzial für die weitere Forschung und Anwendung vorgestellt.
Der zweite Teil des Beitrages geht auf Organoide ein. Dabei werden zunächst ihre Herstellung aus pluripotenten bzw. gewebespezifischen Stammzellen sowie die damit einhergehenden Unterschiede diskutiert. Im Anschluss geht es um den Einsatz von Stammzellen und Organoiden als Modelle zur Erforschung genetisch bedingter Krankheiten und Krebs-, Stoffwechsel- und Infektionskrankheiten sowie die Nutzung patienteneigener Organoide zur Testung der individuellen Medikamentenwirksamkeit, bspw. bei Mukoviszidose. Für den Einsatz von Stammzellen in der regenerativen Medizin werden künftige Möglichkeiten der Transplantation von Organoiden oder von aus diesen abgeleiteten Zellen prognostiziert. Nach einem kurzen Exkurs über Embryoide, aus Stammzellen gewonnene, embryoähnliche Strukturen, bietet der Beitrag eine ethische und rechtliche Einordnung der Forschung an Stammzellen und Organoiden an, wobei eine grundlegende Revision des Stammzellgesetzes gefordert und insbesondere auf Hirnorganoide und Embryoide eingegangen wird.
Der Sachstandsbericht zur somatischen Gentherapie von Boris Fehse behandelt aktuelle Fortschritte in der Krebsgentherapie und der somatischen Gentherapie gegen monogene Erbkrankheiten. Mit Blick auf die Entwicklung seit dem therapeutischen Durchbruch der CAR-T-Zelltherapie (siehe unten) bei bestimmten Blutkrebserkrankungen vor etwas mehr als zehn Jahren konstatiert der Autor ein nachhaltiges Comeback der somatischen Gentherapie. In den letzten Jahren habe es eine Vielzahl klinischer Studien und mehrere Zulassungen von Gentherapien, insbesondere gegen Krebserkrankungen, gegeben. Zudem habe die technische Weiterentwicklung der Gentransfertechnologien und des Genome-Editing die Erforschung gentherapeutischer Ansätze in vielen weiteren Anwendungsfeldern wie z. B. Infektionskrankheiten beflügelt. Ein ursprünglich gegen Krebs entwickelter gentherapeutischer Ansatz mittels Boten-RNA (mRNA) habe die rasante Entwicklung der als Erste zugelassenen und hochwirksamen Corona-Impfstoffe der Firmen BioNTech/Pfizer und Moderna ermöglicht.
Zu den gegenwärtig erfolgreichsten Strategien der Krebsgentherapie zählt der Autor Ansätze, Immunzellen durch genetische Veränderungen gegen Tumorzellen einzusetzen, bspw. CAR-T-Zellen, die gegen bestimmte Oberflächenproteine auf Krebszellen scharfgemacht werden. Im Anschluss an eine Diskussion der großen Chancen, aber auch signifikanten Nebenwirkungen der CAR-T-Zelltherapie bei Krebserkrankungen des Blutsystems wird erläutert, weshalb sich diese Ansätze nicht einfach auf solide Tumoren übertragen lasse und wie die Effizienz von CAR-T-Zellen bei soliden Tumoren erhöht werden könnte. Eine Herausforderung für die breite Anwendung zellulärer Immuntherapien bestehe darin, dass es sich i. d. R. um individualisierte Therapien handele, was mit einem hohen Aufwand, hohen Kosten und mitunter weiteren Problemen wie einem Mangel an funktionsfähigen Immunzellen bei den betroffenen Patient*innen einhergehe. Aus diesen Gründen werde an der Herstellung universell einsetzbarer CAR-T-Zellen gearbeitet sowie an Ansätzen, die T-Zellen direkt im Körper genetisch zu modifizieren, um eine krebsspezifische Immunantwort zu aktivieren. Des Weiteren beschreibt Boris Fehse gentherapeutische Ansätze, die auf die Zerstörung des Tumors ausgerichtet sind, bspw. durch tumorzerstörende Viren, „Suizidgene“ oder die Rekonstitution des Tumorsuppressors TP53. Auch im Bereich der tumorzerstörenden Viren gebe es eine erste Zulassung und mehrere weit fortgeschrittene klinische Studien. Im dritten Abschnitt geht der Autor auf den gegenwärtigen Stand der seit langem anvisierten Gentherapien für monogene Erbkrankheiten ein, für die es in den letzten Jahren einige klinische Erfolge gegeben habe, die mitunter jedoch schwere Nebenwirkungen ausgelöst hätten. Zum Schluss wird die Kontroverse um die sehr hohen Kosten für Gentherapien und damit verbundene Einschränkungen des Zugangs zu ihnen vorgestellt.
Der Pflanzenphysiologe Stephan Clemens diskutiert in seinem Sachstandsbericht zur Grünen Gentechnik, inwiefern die neuen Methoden der Genomeditierung mittels CRISPR/Cas eine Neubewertung der Grünen Gentechnik erforderlich machen und eine Veränderung ihrer öffentlichen Wahrnehmung und Regulierung ermöglichen. Dabei werden zunächst aktuelle Entwicklungen der Genomeditierung von Pflanzen, ihre Funktionsweise, ihr Potenzial für die Grundlagenforschung und Anwendungen in der Landwirtschaft sowie mögliche nicht beabsichtigte Effekte dargestellt. Dabei kontextualisiert der Autor die verschiedenen Verfahren in der Geschichte der Pflanzenzüchtung, wobei insbesondere die Rolle der ungerichteten Mutagenese (Herbeiführung zufälliger genetischer Veränderungen durch Bestrahlung oder chemische Behandlung) bei der Entwicklung neuer Pflanzensorten wie kommerziell erfolgreicher Getreidesorten hervorgehoben wird. Die Genomeditierung eröffne gegenüber herkömmlichen Verfahren neue Möglichkeiten der gezielten Veränderung von Genen und genregulatorischen Elementen, für die der Autor einige Beispiele gibt, darunter die anvisierte Abschwächung der Immunogenität von Glutenproteinen und die De-novo-Domestizierung von Wildreis. Entsprechend erwartet er von den pflanzenzüchterischen Erfolgen der Genomeditierung einen Beitrag zur Bewältigung globaler Herausforderungen, insbesondere zu einer nachhaltigen Landwirtschaft und Erhöhung der Qualität, Quantität, Sicherheit und klimatischen Angepasstheit von Nahrungsmitteln. Die Genomeditierung werde aber transgene Pflanzen nicht gänzlich ersetzen können, da sie eine zentrale Rolle in der Grundlagenforschung spielten und einige Eigenschaften von Nutzpflanzen nur durch die Übertragung von Genen anderer Arten erzielt werden könnten. Als Beispiele werden u. a. der Golden Rice zur Bekämpfung von Vitamin-A-Mangel und die Erhöhung der Photosynthese-Effizienz angeführt. Thematisiert werden zudem die „gravierenden“ Einschränkungen für Forschung und Anwendung der Grünen Gentechnologie durch die Verhinderung von Feldversuchen, u. a. durch regulatorische Hürden für Feldversuche mit transgenen Pflanzen in Europa, die die Erkenntnisse und das Grundrecht auf Forschungsfreiheit Stephan Clemens zufolge unverhältnismäßig einschränken. Kritisch diskutiert wird das Urteil des EU-Gerichtshofs von 2018, das genomeditierte Pflanzen einer aufwendigen und letztlich innovationshemmenden GVO-Regulierung unterwerfe, die Zufallsmutagenese hingegen nicht. Der Beitrag schließt mit einem Plädoyer für eine Revision der Regulierung genetisch veränderter Pflanzen in Europa hin zu einer produktbasierten Risikobewertung und der Frage, ob es durch die Genomeditierung einen Neustart in der Regulierung und Wahrnehmung der Grünen Gentechnologie in Europa geben werde.
Synthetische Biologie ist ein Sammelbegriff für die gezielte Umgestaltung bzw. Herstellung biologischer Systeme mittels ingenieurwissenschaftlicher Methoden. Tobias J. Erb unterscheidet in seinem Sachstandsbericht zunächst zwischen Top-down- und Bottom-up-Ansätzen: Top-down-Ansätze verändern natürlich vorkommende biologische Systeme so, dass sie neue Eigenschaften aufweisen oder neue Funktionen wie die Herstellung bestimmter Stoffe erfüllen. Sie spielen eine zunehmend wichtige Rolle in der biotechnologischen Industrie und Forschung. Bottom-up-Ansätze hingegen dienen dem Ziel, aus einzelnen Bausteinen künstliche Zellen oder neuartige Systeme mit lebensähnlichen Eigenschaften herzustellen. Sie stehen noch am Anfang, bei Machbarkeitskonzepten, könnten aber in Zukunft neuartige Informationsspeicherungs- bzw. -verarbeitungssysteme oder die Herstellung neuer selbstregenerierender Materialien ermöglichen.
Tobias J. Erb stellt die synthetische Biologie auch mit Blick auf ihre Bedeutung für die Bioökonomie, charakterisiert als biobasierte nachhaltige Wirtschaftsform, dar. Mittels neuartiger Stoffwechselwege und Protein-Engineering sowie computergestützter Designverfahren ließen sich künftig maßgeschneiderte Biosynthesen entwickeln, neue Produkte erschließen und nachhaltige Ausgangsmaterialien verwenden, bspw. durch die Erschließung von CO2 als Rohstoffquelle. Die Bedeutung der synthetischen Biologie für die industrielle Biotechnologie weist der Autor als begünstigt durch technische Weiterentwicklungen wie neue Werkzeuge der Genomeditierung, Automatisierungs- und Hochdurchsatz-Screening-Technologien und sinkende DNA-Synthesepreise aus. Er konstatiert einen Trend zur Konzentration auf eine geringe Anzahl standardisierter Wirtsorganismen mit neuen biosynthetischen Eigenschaften. Mittlerweile ließen sich aus Mikroorganismen komplexe pharmazeutische Verbindungen gewinnen, was eine Vereinfachung gegenüber der Gewinnung aus Medizinpflanzen darstelle und weitere gezielte Veränderungen der chemischen Struktur der Produkte und damit eine effizientere Entwicklung und Veränderung biologisch aktiver Stoffe für Medizin und Biotechnologie ermögliche. Des Weiteren werden sog. „biofoundries“ zur automatisierten Synthese und Charakterisierung biologischer Systeme und ihr Potenzial für das Verständnis genetischer Diversität und Komplexität und dessen biotechnologische Nutzung vorgestellt. Der anstehende Übergang in eine digitalisierte biotechnologische Forschungs- und Produktionslandschaft bedürfe gezielter Förderung, gesetzgeberischer Initiativen zur Standardisierung und Genehmigung von sicheren, umweltverträglichen und gut handhabbaren Plattformorganismen und einer Normierung genetischer Bauteile sowie eines wissensbasierten Dialogs über Möglichkeiten und Risiken der synthetischen Biologie mit Gesellschaft und Politik.
Genome-Editing und Einzelzellanalyse sind zwei bahnbrechende biotechnologische Methoden, die die gesamte Bandbreite der lebenswissenschaftlichen Forschung und Anwendung verändert und erweitert haben. Beide waren bereits Gegenstand eigenständiger Publikationen der IAG Gentechnologiebericht.1 Sie werden in diesem Kapitel in ihren Grundzügen und ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Gentechnologien vorgestellt sowie die ethischen und rechtlichen Kontroversen um sie skizziert. Zunächst geht es um die wissenschaftlichen Grundlagen des Genome-Editing, womit Verfahren bezeichnet werden, durch die gezielt und relativ präzise Basenabfolgen im Genom lebender Zellen verändert werden können. Unter den „Genscheren“ wird das CRISPR/Cas-System mit Blick auf seine Funktionsweise, Entdeckungsgeschichte und Weiterentwicklung vorgestellt. Danach werden ethische und rechtliche Kontroversen um genomeditierte Pflanzen und den Einsatz des Genome-Editing in der menschlichen Keimbahn diskutiert. Zentraler Streitpunkt beim Einsatz von Genome-Editing in Pflanzenzüchtung und Landwirtschaft ist die regulatorische Frage, ob mittels Genome-Editing erzeugte Pflanzen, die lediglich punktuelle, schwer nachweisbare Mutationen und keine Fremdgene enthalten, als gentechnisch veränderte Organismen im Sinne des Gentechnikrechts gelten sollten – wie der EU-Gerichtshof 2018 entschied – oder nicht. Im Anschluss geht es um die ethischen und rechtlichen Aspekte von Keimbahnmodifikationen, also von auf alle folgenden Generationen vererbbaren Eingriffen in das menschliche Erbgut, die entweder therapeutischen bzw. präventiven Zwecken dienen können oder aber dem sog. Enhancement, also der Steigerung von Fähigkeiten oder der Erzeugung bestimmter Eigenschaften. Auch hier werden Pro- und Kontra-Argumente erörtert und die Prinzipien und Empfehlungen verschiedener Stellungnahmen skizziert. Der erste Teil des Kapitels schließt mit dem Fall der 2018 geborenen chinesischen Zwillingsmädchen, deren Erbgut durch Genome-Editing verändert worden war.
Der zweite Teil stellt die Einzelzellanalyse vor mit Blick auf ihre Funktionsweise, den gegenwärtigen Forschungsstand und ihr Potenzial für Anwendungen in biologischer Forschung und Medizin. Durch die Einzelzellanalyse gewinnbare Daten über einzelne Zellen gewähren einen zuvor unerreichbaren Einblick in deren Funktionsweise innerhalb von Geweben bzw. Zellpopulationen. Ermöglicht wurde dies durch technologische Entwicklungen wie Next-Generation-Sequencing und Omics-Technologien, die komplexe Vorgänge in Zellen erschließen. Weitere Schritte auf dem Weg zu einer personalisierten Medizin könnten durch neue Möglichkeiten der Untersuchung patientenspezifischer Tumore, zellulärer Veränderungen bei chronischen Erkrankungen und das Ansprechen bestimmter Zellen auf Medikamente zurückgelegt werden. Der Vergleich der Zellen Erkrankter mit denen Gesunder gibt Aufschluss über individuelle Krankheitshintergründe. Die komplexen und umfangreichen Daten der Einzelzellanalytik stellen hohe Ansprüche an den technischen Umgang mit und Austausch von ihnen und ihre Interpretation sowie an Datensicherheit und Datensouveränität.
Das Spotlight von Alma Kolleck und Arnold Sauter stellt die Diskussion um Gene Drives im Vergleich zur Gentechnikkontroverse der letzten Jahrzehnte dar. Gene Drives (wörtlich übersetzt: Genantriebe) seien eine vergleichsweise neue Technologie, mit der durch Erhöhung der Vererbungswahrscheinlichkeit zumindest in der Theorie ganze Populationen von sich sexuell fortpflanzenden Tieren und Pflanzen verändert werden könnten. Da sie bislang nur im Labor getestet werden, sei ihre tatsächliche Wirkung noch unklar. Die Einschätzungen hinsichtlich ihrer möglichen positiven wie negativen Folgen seien vermutlich übersteigert, unterschieden sich dramatisch und führten zu verhärteten Fronten zwischen Befürworter*innen und Gegner*innen der Technologie. Damit weist der Diskurs, Alma Kolleck und Arnold Sauter zufolge, Merkmale vergangener Debatten um Gentechnologien auf, wie etwa eine Technologiefixierung statt einer Problemlösungsorientierung. Darüberhinausgehende neue Aspekte basierten auf der größeren Brisanz von Risikomanagement und -governance, da Gen-Drive-Organismen sich in Wildpopulationen autonom vermehren sollen. Dies gehe mit neuen Herausforderungen für die demokratische Mitsprache der Menschen in betroffenen Gebieten sowie für grenzübergreifende Absprachen einher.
Die Frage nach der Vererbbarkeit von epigenetischen Veränderungen, also von Änderungen nicht der Gene selbst, sondern ihrer Aktivität, wird schon lange und sehr kontrovers diskutiert. In ihrem Beitrag stellen Ali Jawaid und Isabelle M. Mansuy den gegenwärtigen Stand der Forschung zu generationsübergreifenden Auswirkungen von Traumata dar und diskutieren deren Bedeutung für Individuen und Gesellschaft. Traumata definieren sie als überwältigenden Stress, der die physische und psychische Gesundheit von Betroffenen dauerhaft schädigen und bspw. zu einer erhöhten Krankheitsanfälligkeit und posttraumatischen Belastungsstörungen führen könne. Die biologische Basis der Vererbung der Folgen psychischer Traumata liegt dem Autorenteam zufolge in der Übertragung epigenetischer Veränderungen auf die Fortpflanzungsorgane und die Keimbahn durch die traumabedingte Aktivierung bestimmter Signalwege.
Ali Jawaid und Isabelle M. Mansuy fassen ihren Beitrag folgendermaßen zusammen: „Die Vorstellung, dass psychologische Traumata zu Effekten führen, die potenziell vererbbar sind, ist von großer Bedeutung für die Gesellschaft, wenn man bedenkt, wie viele Individuen durch gegenwärtige und jüngste menschliche Konflikte traumatisiert wurden. Dieses Kapitel diskutiert das Konzept der epigenetischen Vererbung im Zusammenhang mit Merkmalen, die aus einer solchen Traumaexposition resultieren, sowie deren Auswirkungen auf das Leben eines Individuums und auf die Gesellschaft. Es gibt einen Überblick über Studien an Tieren und Menschen zur inter- und transgenerationalen Weitergabe der Auswirkungen psychologischer Traumaexpositionen, indem es die Frage behandelt, wie Traumaexposition und damit verbundene emotionale und kognitive Störungen Spuren in der Keimbahn hinterlassen können. Auch die Frage nach ‚Gelegenheitsfenstern‘ in verschiedenen Lebensabschnitten, von der Kindheit bis zum Erwachsenenalter, in denen die Vererbung von Traumafolgen verhindert werden kann, wird diskutiert. Insbesondere arbeitet das Kapitel die Implikationen der Forschung über die Vererbung von Traumafolgen im Zusammenhang mit politischen und ethnischen Konflikten heraus. Dabei geht es auch darum, was Menschen, die langfristig Frieden sichern wollen (‚peace builder‘), aus dem Gebiet der epigenetischen Vererbung lernen können und wie sie mit Wissenschaftler*innen zusammenarbeiten können, um Strategien und politische Entscheidungen mit biologischen Erkenntnissen zu bereichern und den Frieden zu fördern“ (S. 278–279).
In ihrem kommunikationswissenschaftlichen Spotlight stellt Annette Leßmöllmann das von ihr mit durchgeführte „Bürgerdelphi Keimbahntherapie“ mit Blick auf dessen Ziele, Methoden, Ergebnisse und Potenziale für eine transparente Einbeziehung von Bürger*innen in Beratungs- und Entscheidungsfindungsprozesse vor. Das Bürgerdelphi ist ein Bürger*innenbeteiligungsverfahren, das zum einen die Teilnehmenden dazu befähigen sollte, sich zu dem Thema des Einsatzes der Genschere CRISPR/Cas in der menschlichen Keimbahn ein informiertes ethisches Urteil zu bilden, zum anderen waren das Verfahren und damit auch die Teilnehmenden selbst Forschungsgegenstand der Organisator*innen, bspw. mit Blick auf Kommunikationswege, Argumentationsformen und Qualität des Beteiligungsprojektes. Ein wesentliches Element des Verfahrens sei die eigenständige, expertengestützte Erarbeitung der zentralen Leitfragen seitens der Teilnehmenden gewesen. Diese betrafen die Legitimität, Regulierungsmöglichkeiten und Missbrauchsgefahr des Einsatzes der Keimbahntherapie. Die Ergebnisse der hauptsächlich online bzw. online und telefonisch durchgeführten Diskussionen seien in Form einer Stellungnahme auch Politiker*innen und Teilnehmenden der öffentlichen Abschlussveranstaltung sowie Studierenden im Rahmen einer Lehrveranstaltung zugänglich gemacht worden.
19. Einsatz gentechnologischer Methoden in der Impfstoffentwicklung gegen das SARS-CoV-2-Virus
(2021)
In seinem Beitrag stellt Martin Korte die Suche nach einem wirksamen Corona-Impfstoff, insbesondere mit Blick auf die Rolle der Gentechnik, dar. Neben dem Virus selbst werden verschiedene Angriffspunkte für Impfstoffe mit unterschiedlichen Eigenschaften vorgestellt. Hauptangriffsziel sei das sog. Spike-Protein, ein Protein in der Hülle der Viren, welches das Andocken an bestimmte Rezeptoren der Wirtszellen ermögliche. Zu den verschiedenen bereits zugelassenen oder in der Entwicklung befindlichen Impfstoffarten gehören RNA-Impfstoffe, vektorbasierte Impfstoffe, rekombinante proteinbasierte Impfstoffe, inaktivierte Virusvektoren sowie DNA-Impfstoffe, von denen einige näher vorgestellt werden. Die Entwicklung der Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 sei einem im Vergleich zur herkömmlichen Impfstoffentwicklung (die viele Jahre dauert) beschleunigten Zeitplan gefolgt, der auch durch gentechnologische Plattformen, fortgeschrittene Sequenzierungen und genetische Editierungsmöglichkeiten, also präzise gentechnikbasierte Veränderungen in der Sequenz der DNA- und RNA-Impfstoffe, ermöglicht worden sei. Die Entwicklung sei auch durch Erkenntnisse aus der Entwicklung von Impfstoffen gegen früher aufgetretene, ähnliche SARS-Viren beschleunigt worden. Bestehende Herstellungsprozesse habe man übernehmen und Phase I/II-Studien bereits ineinander verschachtelt starten können. Phase-III-Studien seien bereits nach der Zwischenanalyse der Phase I/II-Ergebnisse begonnen worden. Auf diese Art und Weise, begleitet und genehmigt von den Zulassungsbehörden, seien mehrere klinische Studienphasen parallel durchgeführt, aber keine Zulassungsphase übersprungen oder mit kleineren Kohortenzahlen als bei der Zulassung anderer Impfstoffe gearbeitet worden.
Insgesamt hält Martin Korte fest, dass innerhalb von nur zwölf Monaten mehrere Impfstoffe gegen SARS-CoV-2 in Europa, USA und GB zugelassen worden seien, davon zwei mRNA-Impfstoffe und zwei vektorbasierte Impfstoffe. Dies wäre ohne sichere und effiziente gentechnologische Verfahren nicht möglich gewesen. Eine riesige Herausforderung bestehe nun darin 7–9 Milliarden Impfdosen herzustellen und über die gesamte Welt gerecht zu verteilen. Zudem seien parallel Impfstoffplattformen zu entwickeln, die sich laufend an mutierte Virusvarianten anpassen können, was auch zulassungstechnisch eine große Herausforderung sein werde.
Der Beitrag diskutiert die Hintergründe und Legitimationen für die restriktive Regulierung, die den Einsatz der Grünen Gentechnik in Europa bis in die Gegenwart blockiert. Die Regulierung wird mit der Vorsorge vor den besonderen Risiken gentechnisch veränderter Organismen begründet. Es gibt jedoch trotz umfangreicher Sicherheitsforschung und nach jahrzehntelangem Anbau außerhalb Europas bis heute weder empirische Anhaltspunkte noch auch nur ein theoretisches Modell dafür, dass gentechnisch veränderte Pflanzen schädlicher oder unsicherer sein könnten als konventionell gezüchtete neue Pflanzen. Gelegentliche alarmierende Befunde, die in der Öffentlichkeit breit diskutiert worden sind, haben sich allesamt bei wissenschaftlicher Überprüfung als nicht einschlägig oder nicht tragfähig erwiesen.
Gleichwohl ist die von den führenden Wissenschaftsorganisationen erhobene Forderung nach einer Entschärfung der Regulierung weder in der Gesellschaft, noch in der Politik auf Resonanz gestoßen. Es gibt ein stabiles Meinungsklima, das der Akzeptanz der Grünen Gentechnik entgegensteht. Dass Pflanzen, die gentechnisch verändert sind eben deshalb ein besonderes Risiko bergen, gilt als ausgemacht.
Die Politik folgt eher der Risikowahrnehmung in der Bevölkerung als der Risikoprüfung in der Wissenschaft. Und sie hat dafür in Deutschland höchstrichterliche Billigung bekommen. Das Bundesverfassungsgericht hat die restriktive Regulierung unter Verweis auf den Widerstand in der Bevölkerung mit dem Vorsorgeprinzip gerechtfertigt.
Die gesellschaftliche und politische Blockade der Grünen Gentechnik ist eine Abkehr vom liberalen Innovationsregime: Neue Technik wird nicht zugelassen, weil sie mehrheitlich nicht gewollt ist. Das kann man als Demokratiegewinn verbuchen. Aber es hat erhebliche Kosten: Man gewinnt nichts für den Schutz der menschlichen Gesundheit und die Integrität der Umwelt und verbaut sich den Zugang zu technischen Optionen, die dazu beitragen könnten, die etablierte Landwirtschaft produktiver und zugleich ökologisch nachhaltiger zu machen. Ob Europa angesichts der neueren gentechnischen Methoden und Potenziale von der Blockade der Grünen Gentechnik abrücken kann, bleibt abzuwarten.
Das Spotlight von Hans-Georg Dederer analysiert das wegweisende Urteil des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 25.07.2018 mit Blick auf die Urteilsbegründung und prozessuale Situation. Das genannte Urteil habe zur Folge, dass genomeditierte Organismen als gentechnisch veränderte Organismen (GVO) einzustufen seien. Mit dieser Einstufung gingen umfangreiche Auflagen für die Freisetzung und das Inverkehrbringen dieser Organismen einher, welche dem Autor zufolge Probleme des Normvollzugs nach sich zögen. So entstünden u. a. hohe Hürden für die Genehmigung und Durchführung von Feldversuchen, aufwendige Kennzeichnungspflichten und Schwierigkeiten der Nachweisbarkeit bestimmter Mutationen, die bspw. bei Haftungsfragen wegen „gentechnischer Kontamination“ relevant werden könnten. Des Weiteren dürften sich negative welthandelsrechtliche und wirtschaftliche Auswirkungen ergeben, wobei der Autor das unterschiedliche Schutzniveau von genomeditierten Organismen gegenüber weitaus stärker und unspezifischer veränderten Mutageneseorganismen als inkonsistent und mit dem Recht der Welthandelsorganisation unvereinbar sowie als schwer zu rechtfertigende Handelshemmnisse für Drittstaaten einstuft. Der Beitrag endet mit einem Appell an die Politik, die relevante Richtlinie 2001/18/EG zu ändern.
Kann Gentechnik einen Beitrag zu mehr Nachhaltigkeit in der Landwirtschaft leisten?
Geleitet von dieser Frage erstellt Ortwin Renn in seinem Beitrag eine „Nachhaltigkeitsbilanz“ der Grünen Gentechnik. Der Autor plädiert dafür, nachhaltige Entwicklung als Leitbild für eine gemeinwohlorientierte Gentechnikbewertung zu etablieren und stellt Chancen und Risiken von Gentechnik jeweils mit Blick auf die ökologische, ökonomische und soziokulturelle Dimension von Nachhaltigkeit dar. Unter ökologischer Nachhaltigkeit fasst er v.a. drei Ziele: Dekarbonisierung, Dematerialisierung und Renaturalisierung. Während Gentechnik sich kaum auf die beiden ersteren auswirke, lasse sie mit Blick auf Renaturalisierung und Biodiversität sowohl größere Chancen als auch größere Risiken erkennen. Einerseits könnten gentechnisch veränderte Pflanzen einen substanziellen Beitrag zu ökologischer Nachhaltigkeit leisten, bspw. durch die Herstellung an regionale Bedingungen angepasster bzw. ertragreicherer Pflanzensorten. Andererseits bestünden durch potenziellen Gentransfer von Kultur auf Wildpflanzen sowie den durch die Gentechnik möglicherweise beschleunigten Trend hin zu Monokulturen die Risiken einer Verringerung der Biodiversität und Belastungen von Ökosystemen.
Unter ökonomischen Aspekten der Nachhaltigkeit fasst Ortwin Renn ebenfalls drei Ziele: Versorgungssicherheit, Förderung der Kreislaufwirtschaft sowie sozial und langfristig abgesicherte Beschäftigungs- und Eigentumsverhältnisse (bspw. die Sicherung der Existenzfähigkeit bäuerlicher Betriebe). Der Gentechnik attestiert er „das Potenzial, mittel- und langfristige wirtschaftliche Vorteile für Anbieter von Agrardienstleistungen, Saatguthersteller und landwirtschaftliche Betrieben zu bieten“ (S. 489), die allerdings unter den gegebenen Marktstrukturen hauptsächlich großen Agrarfirmen und Saatgutherstellern zu Gute kämen. Gentechnik spiele bei den gegenwärtigen Konzentrationsprozessen keine ursächliche, möglicherweise aber eine verstärkende Rolle. Sie biete aber auch Chancen für Kleinunternehmen, ihr Einkommen zu verbessern und ihre
Existenz zu sichern.
Der sozialen Komponente der Nachhaltigkeit ordnet Ortwin Renn vier Ziele zu: „Gleichheit der Lebensbedingungen (intra- und intergenerationale Gerechtigkeit), Erhalt der menschlichen Gesundheit, Souveränität und Teilhabe am wirtschaftlichen und politischen Geschehen sowie soziale und kulturelle Akzeptanz“ (S. 490).
Ob Gentechnik zur Erreichung dieser Ziele beitrage oder ihnen abträglich sei, hänge v. a. von der Art ihrer Einführung und Regulierung ab, wobei der Autor das Potenzial für Chancen in diesem Bereich als eher gering, das für Risiken dagegen als weitreichend, aber nicht schwerwiegend einstuft.
Der Beitrag von Jürgen Hampel und Kolleg*innen stellt die Ergebnisse des TechnikRadar 2020, einer aktuellen Studie über die Haltung der deutschen Öffentlichkeit zu verschiedenen Anwendungen der Gentechnik vor. Bei der Untersuchung der Einstellungen zum Gentechnikeinsatz in der Landwirtschaft wurden die Einstellungen zur klassischen Gentechnik und zur seit Jahrzehnten eingesetzten, bisher aber kaum umstrittenen Mutagenesezüchtung, bei der neue Pflanzensorten durch den Einsatz von genverändernder Bestrahlung oder von Chemikalien hergestellt werden, verglichen. Beide Techniken seien auf hohe Ablehnung gestoßen, was die Autor*innen auf verbreitete und durch Werbung verstärkte, romantisierende Vorstellungen von Landwirtschaft, die Hochschätzung von Natur und Natürlichkeit sowie fehlende Nutzenerkennung zurückführen. Auch gegenüber der gentechnischen Herstellung von Laborfleisch, das von Befürworter*innen als Ansatz zur Lösung globaler Ernährungs-, Umwelt- und Tierschutzprobleme dargestellt werde, bestehen der Studie zufolge große Vorbehalte seitens der Öffentlichkeit. Als Gründe für die verbreitete Ablehnung werden u. a. Entfremdung, Sicherheitsbedenken und dass Laborfleisch kaum als adäquater Lösungsansatz für die globalen Ernährungsprobleme gesehen wird, angeführt. Im Bereich medizinischer Anwendungen fragte der TechnikRadar 2020 zunächst die Einstellungen zur Gewinnung von Ersatzorganen aus genetisch veränderten Tieren (Xenotransplantation) sowie aus Stammzellen (Organoide) ab. Tierschutzgründe hätten zu einer hohen Ablehnung der Xenotransplantation geführt, wohingegen die Transplantation von im Labor hergestellten Organoiden hohe Zustimmungswerte verzeichnet habe und nur von einem Fünftel für ethisch inakzeptabel gehalten werde. Bei der Untersuchung der Einstellungen zur Gentherapie differenzierte die Studie zwischen Gentherapie am Erwachsenen, Gentherapie am Embryo und Keimbahntherapie, denen jeweils eine stark abgestufte Akzeptanz korrespondiere: während 70 % der Befragten Gentherapie an Erwachsenen befürworteten, habe nicht einmal jeder Fünfte der Keimbahntherapie zugestimmt.
Die grundsätzliche Ablehnung der Keimbahntherapie falle jedoch mit der Hälfte der Befragten im Vergleich zu früheren Umfragen überraschend gering aus. Die Autor*innen betonen abschließend die Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Einstellungen zur Gentechnik entlang bestimmter Anwendungen, die eine pauschale Ablehnung Grüner und eine pauschale Zustimmung zu Roter Gentechnik hinter sich gelassen habe und fordern, dies in der Wissenschaftskommunikation zu berücksichtigen.
Ein Alleinstellungsmerkmal der Arbeit der IAG Gentechnologiebericht sind die sog. Problemfelderhebung und die Indikatorenanalyse, die hinsichtlich ihrer Ziele, Methodik und Ergebnisse in dem Beitrag von Angela Osterheider, Louise Herde und Lilian Marx-Stölting vorgestellt werden. Im Zentrum steht dabei das vielschichtige und von den verschiedensten Fachdisziplinen geprägte Feld der Gentechnologien in Deutschland. Darunter fallen Themen, die zum Teil seit Beginn der Arbeit der IAG im Rahmen von Themenbänden behandelt worden sind: so wird eine Untersuchung der Entwicklung über die Zeit hinweg ermöglicht: Gentherapie, Grüne Gentechnologie, Gendiagnostik, Stammzellforschung, Epigenetik, synthetische Biologie und Organoidforschung (als Teilbereich der Stammzellforschung).
Diese Themenfelder werden in einer messbaren und repräsentativen Form für die fachliche und interessierte breitere Öffentlichkeit erschlossen. Im Rahmen dieses Ansatzes werden zunächst qualitative Problemfelder, d. h. öffentlich diskutierte Aspekte und Fragen zu den Themen, erhoben, die dann den vier Leitdimensionen (wissenschaftliche, ethische, soziale und ökonomische Dimension) sowie Indikatoren (quantitative Daten im Zeitverlauf) zugeordnet werden. Die im Rahmen des Fünften Gentechnologieberichts beleuchteten Problemfelder sind: Realisierung Forschungsziele, Forschungsstandort Deutschland, öffentliche Wahrnehmung, soziale Implikationen, gesundheitliche Risiken, Dialogverpflichtung der Forschung und ethische Implikationen. Die Indikatoren, die die genannten Problemfelder quantitativ beschreiben und somit ihre Bedeutung messbar machen sollen, betreffen die mediale Abbildung, die Anzahl an Neuerscheinungen, Online- Suchanfragen, internationalen Fachartikeln, Fördermitteln durch den Bund, die DFG und die EU sowie öffentlichen Veranstaltungen zu den jeweiligen Themenfeldern.
Die synthetische Biologie (SynBio) ist ein höchst interdisziplinärer Forschungszweig, der ein ganzes Spektrum naturwissenschaftlicher Disziplinen vereint. Dies führt zu Schwierigkeiten, Expert*innen auf dem Gebiet als solche zu erkennen, da sich selbst Wissenschaftler*innen der SynBio nicht vorrangig als solche bezeichnen würden.
Der Beitrag von Angela Osterheider und Kolleg*innen verfolgt daher zwei Ziele:
Zum einen wird die Webapplikation ExpertExplorer vorgestellt, die fachlich ausgewiesene Expert*innen auf einem Forschungsgebiet anhand ihrer Publikationen ermitteln kann. Zum anderen beschreiben die Autor*innen unter Anwendung des ExpertExplorers die Forschungslandschaft SynBio, indem v. a. in Deutschland tätige Wissenschaftler*innen mit Expertise auf dem Gebiet der synthetischen Biologie recherchiert werden. Abschließend wird die Funktionsweise des ExpertExplorers sowie die vorgestellte Analyse reflektiert und ein Fazit gezogen. Die Autor*innen halten die Applikation für geeignet, um sich schnell und umfassend einen aktuellen Überblick über fachlich ausgewiesene Expert*innen auf den Feldern biomedizinischer Forschung zu verschaffen und auch langfristige Entwicklungen von Forschungslandschaften sichtbar zu machen.
Im „Fünften Gentechnologiebericht“ bieten namhafte Expertinnen und Experten einen Überblick über aktuelle Entwicklungen des dynamischen Forschungsfeldes der Gen- und Biotechnologien und ihrer Anwendungen. In den Bick genommen werden u. a. genetische Diagnostik, somatische Gentherapie, Impfstoffentwicklung, Stammzell- und Organoidforschung, Grüne Gentechnik, Synthetische Biologie, Gene Drives, Genome-Editing, Epigenetik und Einzelzellanalyse. Neben Sachstandsberichten werden auch die gesellschaftliche Wahrnehmung der Gentechnologien sowie ethische und rechtliche Fragen erörtert, u. a. zu Genome-Editing, Hirnorganoiden und Big Data in der personalisierten Medizin. Die interdisziplinäre Arbeitsgruppe Gentechnologiebericht gibt außerdem Handlungsempfehlungen zu zentralen Themen. Die Kurzfassung enthält die Einleitung, eine Zusammenfassung der Buchbeiträge und die Handlungsempfehlungen der IAG Gentechnologiebericht.
Organoide sind Mini-Werkzeuge für die biomedizinische Forschung. Sie werden außerhalb des Körpers aus Stammzellen gezüchtet und bilden gezielt bestimmte Organe nach. So gibt es etwas Hirnorganoide, Lungenorganoide oder Darmorganoide, die die entsprechenden Organe in der Zellzusammensetzung und grundlegenden Funktionen nachahmen. Sie können als Krankheitsmodelle oder als Testsysteme für neue Medikamente dienen. Das White Paper führt in die Welt der Organoide ein und beinhaltet auch Kernaussagen und Handlungsempfehlungen zum Thema, welche die interdisziplinäre Arbeitsgruppe Gentechnologiebericht der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften erarbeitet hat.
Einführung
(2019)
Historische Gärten sind als denkmalgeschützte Kulturgüter wertvolle Zeugnisse unserer Zivilisation. Wie lassen sie sich unter veränderten klimatischen Bedingungen bewahren? Vertreter/-innen aus den Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften sowie der Gartendenkmalpflege stellen erstmals gemeinsam Lösungsstrategien für die Bewahrung historischer Gärten als Gesamtkunstwerke unter dem Vorzeichen des Klimawandels vor.
Introduction
(2019)
Eine Analyse des historischen und künstlerischen bzw. kunsthistorischen Wertes einer historischen Gartenanlage muss – insbesondere auch im Hinblick auf sich wandelnde Klima-, Umwelt- und Nutzungsanforderungen – allen Maßnahmen ihrer Pflege, Erhaltung, Wiederherstellung oder Rekonstruktion zugrunde liegen. Sie wird aus den Befund und Quellenuntersuchungen im Abgleich mit den Parametern der Gartenkunstgeschichte und im naturwissenschaftlichen Zugriff (Pflanzenbestand) zielbezogen erstellt (Parkpflegewerk). Aufgrund der lebendigen und fragilen (»natürlichen«) Materialität des Gartenkunstwerks stellen die Sollzustände zwangsläufig Interpretationen und Konstrukte der leitenden Denkmalschicht(en) dar, die ggfs. keinen punktuellen Idealzustand, sondern eine Entwicklung der Anlage veranschaulichen.
Die Kultivierung und Bewahrung von Gärten und Gartenlandschaften als schöne Künste ist seit Jahrtausenden Ausdruck der Kultur. Sie wird dem Menschen in Zeiten des Klimawandels, der immer knapper werdenden Ressourcen infolge der ansteigenden Weltbevölkerung zu einer wesentlichen Kulturaufgabe unserer Gesellschaften.
Zur Bewahrung historischer Gärten hat sich in den letzten 100 Jahren eine Methodik der »Gartendenkmalpflege« entwickelt, die aufgrund besonderer Umweltabhängigkeiten nicht nur auf die Konservierungs-, Restaurierungs- und Kulturwissenschaften angewiesen ist, sondern künftig deutlicher die Naturwissenschaften einbeziehen muss. Gärten als Kulturdenkmale sind besondere Stätten der Wissenschaft und Forschung.
Tradition und Fortschritt der Gärten in der Kulturgeschichte der Menschheit gehen einher mit einem Wandel des Naturverständnisses, der Darstellung von Gesellschaftsmodellen und stetem Bildungsanspruch. Das führt zu einer ethischen Orientierung für künftige Generationen im Umgang mit der gestalteten und unberührten Natur.
Inwiefern wurde und wird wissenschaftliches Wissen mit historischen Gärten in Zusammenhang gebracht? Über diese Frage gibt es eine reichhaltige kunst- und architekturhistorische Literatur, die zu einem gewichtigen Teil auf repräsentative höfische und adelige Einrichtungen bezogen ist. In letzter Zeit ist eine rege Forschungsliteratur über herrschaftliche Gärten einerseits und über spezifisch für naturhistorische Zwecke angelegte Gärten auch im Bereich der Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik andererseits entstanden, mit Schwerpunkt in der Frühen Neuzeit und im 19. Jahrhundert. Die Zeit nach 1900 und insbesondere die neueste Zeit scheinen hingegen – mit Ausnahme der zoologischen Gärten – weniger thematisiert worden zu sein. Was mögen diese auf den ersten Blick unterschiedlich erscheinenden Gartengeschichten miteinander zu tun haben? Ab wann ist es möglich, von einer Wissenschaft des Gartenbaudesigns zu sprechen, ab wann wird Gartendenkmalpflege selbst zu einer akademischen Disziplin, und wie wird naturwissenschaftliches Wissen hier einbezogen? In diesem Beitrag sollen Thesen zu einer Wissensgeschichte historischer Gärten anhand einer Auswahl der vorhandenen Literatur sowie entlang der eben genannten Fragestellungen formuliert und mit den in diesem Band fokussierten Berlin- Brandenburgischen Beispielen nach Möglichkeit in Verbindung gebracht werden.
When thinking about the historic landscape gardens of the Berlin-Brandenburg region we tend to focus automatically on the royal gardens that Peter Joseph Lenné originally included in his beautification plan for the Potsdam area that are now a UNESCO World Heritage Site. There is good reason for this focus. The complex of Sanssouci, Charlottenhof, Neuer Garten, Babelsberg, Glienicke, and Pfaueninsel constitutes an extraordinarily beautiful panorama. But from a broader perspective the unique character of these gardens can be seen to have informed the garden landscape of all of Berlin in a series of social transformations that occurred during the course of industrialisation in the nineteenth century. For this purpose it is useful to focus on the role of steam power. By no means, however, did the significance of steam power (or the lack of it) end with its utilitarian function, for it informed the aesthetic character of landscape gardens, too. And this character changed with the historical transformations that associated different sorts of gardens with people in different social strata. I will schematise three such »classes« of people and gardens.
»Der Einfluss des Himmels« : Beziehungen zwischen Klimatheorie und Gartenkunst im 18. Jahrhundert
(2019)
Der Beitrag untersucht, wie das von der Klimatheorie geprägte Verständnis vom Einfluss des Klimas auf den Charakter – sowohl von Individuen und Gruppen als auch von Landschaften – die Theoriebildung hinsichtlich des Landschaftsgartens und seine diskursive Rezeption mitgeprägt hat. Er identifiziert Begriffs- und Bedeutungsebenen, die als Brücken zwischen Klimatheorie und Gartenkunst im 18. Jahrhundert fungieren. Sie sind damit an der Ausbildung einer normativen Ästhetik beteiligt, die Konzepte von Natur und Landschaft in die Konstruktion qualitativer Hierarchien von Kulturräumen einbeziehen, die in den Gärten manifestiert sind.
Für den Entwurf bzw. die Schaffung größerer Parkanlagen wurden in der Vergangenheit nur diejenigen Gartenkünstler herangezogen, die über ein vielseitiges Wissen und gute Fertigkeiten im Bereich der Gartenpraxis, -theorie, Kunst und Technik verfügten. In diesem Beitrag wird ein Einblick in die gartenkünstlerische Ausbildung vom ausgehenden 17. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert gegeben. Dabei wird diese Entwicklung konkret am Beispiel der Ausbildungswege der Schöpfer der vier von der interdisziplinären Arbeitsgruppe (IAG) ausgewählten Parkanlagen (Tiergarten in Berlin, Wörlitz, Babelsberg, Branitz) nachvollzogen.
Das Bodenrelief ist eines der wesentlichen Ausdrucksmittel der Gartenkunst. Der vorgefundene Geländeverlauf bedeutet sowohl Inspiration als auch Gestaltungspotential für den Gartenkünstler. Diese Fallstudie befasst sich mit der Umformung des Terrains im Zuge der Anlage des Parks Babelsberg durch Peter Joseph Lenné ab 1833, ab 1842 durch Hermann Fürst von Pückler-Muskau. Exemplarisch werden Hinweise auf kulturelle Konnotationen geomorphologischer Situationen herausgearbeitet. Es lässt sich eine Verankerung von Gestaltungsmotiven wie Gedenken an militärische Ereignisse, dynastisch-familiäre Bezüge, landschaftliche Besonderheiten des Herrschaftsraums nachzeichnen.
Topographisches Wissen wird zudem in bildlichen Darstellungen transportiert – von der Karte über die Planzeichnung bis zu Abbildungen in gartentheoretischen Publikationen. Welche Kriterien der Topographie erscheinen im »Bild«, an wen ist es adressiert und ist ihm ein eigener Kunstwert zuzumessen?
Drei der historischen Gärten um Dessau sind bei den letzten Hochwasserereignissen vor einigen Jahren stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Bereits wenige Jahre nach der Erstanlage des Wörlitzer Landschaftsgartens ereilte ihn ein ähnliches Schicksal, sodass die
Entwicklung der Parkanlage im Umgang mit Hochwasser im Zentrum der Überlegungen steht. Die letzten Hochwasser haben multiple Ursachen. Der Klimawandel ist einer der Faktoren, wobei aber auch andere anthropogene Ursachen eine Rolle spielen.
Die Bewirtschaftung, Pflege und Unterhaltung von historischen Gärten muss gerade in Zeiten eines sich wandelnden Klimas nachhaltig gestaltet werden. Dazu gehören die in diesem Beitrag dargestellten Aspekte einer Wiederanlage und Bewirtschaftung von Nutzgartenpartien, der Betrieb von Parkbaumschulen und ein Pflegemanagement, das geschlossene Stoffkreisläufe zum Ziel hat. Alle drei Ansätze haben Vorbilder im historisch dokumentierten Umgang mit Parks und Gärten im 18. und 19. Jahrhundert.
Um die Auswirkungen des Klimawandels auf historische Parkanlagen abzuschätzen, wurden beobachtete Klimadaten für die vier ausgewählte Parkanlagen in Berlin und Brandenburg ausgewertet und regionalen Modellsimulationen für zwei Zukunftsszenarien (RCP 4.5 und RCP 8.5) bis zum Jahr 2100 gegenüber gestellt. In der bodennahen Lufttemperatur
erkennt man, dass im letzten Jahrhundert eine Erwärmung stattgefunden hat, die sich in der Zukunft fortsetzen wird (bis zum Jahr 2100 um ca. 1 °C [RCP 4.5] bis 3 °C [RCP 8.5]). Auch der Niederschlag hat in den letzten Jahrzehnten zugenommen, wobei der Winterniederschlag stärker anwuchs als der Sommerniederschlag. Dieser Trend setzt sich im RCP 8.5 Szenarium bis zum Jahr 2100 fort.
Untersucht werden in dieser Studie die Gehwege des Tiergartens. Anhand von Feldmessungen auf neun verschiedenen Wegen mit unterschiedlichen Konfigurationen von Breite, Vegetation und Beschattung und einer ENVI-met-Simulationsreihe von fünfzehn entsprechenden Szenarien untersucht diese Studie, wie sich der Vegetationstyp entlang des Weges, der Überdachungszustand und die Gehwegbreite auf den menschlich-thermischen Komfort auswirken.
Zur Struktur, Vielfalt und Entwicklung der Gehölzflora in historischen Gärten und Kulturlandschaften liegen in der Regel zahlreiche historische und aktuelle Dokumentationen vor. Im Gegensatz dazu fehlen entsprechende Informationen zur räumlichen und zeitlichen Variabilität von Böden und ihres Wasserhaushalts. Ein Vergleich der für den Schlosspark Branitz und das Dessau-Wörlitzer Gartenreich vorliegenden aktuellen Kartierungsergebnisse liefert hier wichtige Hinweise auf die große Heterogenität der Substrateigenschaften und die bodenhydrologischen Bedingungen. Hierbei zeigt sich, dass die aus natürlichen Prozessen der Landschafts- und Bodengenese hervorgegangenen Böden sowohl durch Vornutzung als auch durch gestalterische Eingriffe zum Teil stark überprägt sind. Für den Park Babelsberg fehlt eine solche hochaufgelöste Information. Diese Befunde verdeutlichen, dass eine gezielte und ressourceneffiziente Bewirtschaftung und Bestandsplanung nur möglich ist, wenn die Standortheterogenität und andere Aspekte räumlich hochaufgelöst erfasst und in einem weiteren Schritt mit modernen Methoden der Geodatenverarbeitung (GIS) abgebildet und analysiert werden. Mit Blick auf präventive Maßnahmen zur Klimaanpassung und die Abwehr von Schäden in akuten klimatischen Extremsituationen ist daher die flächenhafte Erfassung der bodenkundlichen und bodenhydrologischen Standortbedingungen für eine zukunftsorientierte gartenpflegerische Planung eine unabdingbare Grundvoraussetzung.
Die Verwendung fremdländischer Gehölze hat in der Gartenkunst eine lange Tradition. Im Staat Preußen entstand durch die Errichtung einer Landesbaumschule 1823 ein europaweit herausragendes Sortiment an Gehölzen. Ein Teil davon wird noch heute im Park von Sanssouci bewahrt, im Jahre 2000 waren es 212 Arten und weitere 116 Sorten. Dies ist ein einmaliger Kulturschatz. Die fremdländischen Bäume konzentrieren sich in den Sonderbereichen der Gärten. Die Parks der Stiftung Preußischer Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg (SPSG) selbst bestehen zu ca. 80 % aus heimischen Gehölzen1. Auch ihre Artenzahl ist erstaunlich hoch. Da sich sehr wahrscheinlich die mit diesen Gehölzen verbundenen Lebensgemeinschaften erhalten konnten, sind historische Parks auch für die Vielfalt innerhalb der Ökosysteme von erheblichem Wert. Die Vielfalt an fremdländischen und heimischen Gehölzen und damit verbunden auch die genetische und ökosystemare Diversität können für die Entwicklung von Adaptionsmaßnahmen im Klimawandel von erheblichem Nutzen sein. Gebietseigene Herkünfte haben sich stets in den Gärten erhalten. Fremdländische Arten wurden akklimatisiert und auf ihre Vitalität im Gastland hin selektiert. Sie könnten als Ausgangspunkt auch für die Grüne Infrastruktur der Städte dienen.
In einer durch Landnutzung und Klimawandel massiv veränderten Welt werden historische Gärten zu potentiellen Refugien für wildlebende Tiere und Pflanzen. Darüber hinaus reagieren zahlreiche Arten bereits auf den Klimawandel, mit verschiedenen Implikationen für die Gärten. Ein besseres Verständnis dieser hier umrissenen komplexen Beziehungen ist dringend notwendig, auch und insbesondere zur besseren Erschließung von Synergiepotentialen im Erhalt des Kultur- wie Naturerbes historischer Gärten.
Wildtiere spielen in historischen Gärten heute sehr unterschiedliche Rollen. Sie waren oftmals Grund für deren Etablierung (Tiergärten) oder Teil der Installation (Landschaftsgärten). Heute besiedeln Wildtiere die Gärten meist selbstständig und ohne menschliches Zutun. Ihre Anwesenheit kann, je nach Sichtweise, als positiv (Bereicherung des Gartenaspektes, Artenschutz) oder als ausgesprochen negativ (Schäden, insbesondere an Vegetation und Gebäuden, Verdrängung heimischer Arten durch invasive Neozoen) empfunden werden. Gelegentlich, wenn etwa gefährdete oder zumindest geschützte Arten wie Biber oder Fischotter große Schäden verursachen, lässt sich selbst diese Differenzierung nicht mehr klar treffen. Der vorliegende Beitrag zeigt Beispiele für die Rolle unterschiedlicher Tierarten in historischen Gärten und diskutiert mögliche Managementansätze, um in ihnen bestimmte Arten unter den spezifischen Bedingungen des urbanen Lebensraumes mit sehr heterogenen Ansichten und Einstellungen der Bevölkerung entweder zu fördern, zu tolerieren oder aus den Gärten fernzuhalten.
Seit 1992 werden für die Landeshauptstadt Potsdam alle sechs Jahre Daten zu Landnutzung (Biotopen), Versiegelung und Grünvolumen erfasst. Neben der Möglichkeit, die städtebauliche Entwicklung nachzuvollziehen, macht die Dokumentation der Entwicklung dieser Indikatoren die Bedeutung der historischen Parkanlagen nicht zuletzt wegen ihrer zentralen Lage im Siedlungsverbund deutlich. Auch bezogen auf eine wirkungsvolle Klimaanpassung im Sinne der Reduktion von Hitzestress spielen die Gärten für die Stadt eine große Rolle, weil die quantitativen und qualitativen Werte der Vegetation nicht, wie in der Umgebung, durch Siedlungsverdichtung in Frage gestellt werden. Das drückt sich auch in deutlich höheren Biotopwerten als in der Umgebung der Parkanlagen aus. Die Kontinuität und der hohe Detaillierungsgrad des städtischen Umweltmonitorings sind zudem geeignet, wertvolle Hinweise für die Bewirtschaftung und das Pflegemanagement der Parkanlagen zu liefern.
Der Beitrag stellt das Methodenspektrum der zerstörungsfreien Prüfverfahren vor, das für die gebaute Infrastruktur einen hohen Sicherheitsstandard gewährleistet. Auch Bauwerke in historischen Gärten können von der Kenntnis dieser Verfahren profitieren. Es werden Regelwerke und Funktion gebräuchlicher zerstörungsfreier Prüfverfahren beschrieben, sodass ein für die jeweilige Fragestellung geeignetes Verfahren ausgewählt werden kann. Die Methoden erlauben ein vorausschauendes Erhaltungsmanagement; das bedeutet, dass Gegenmaßnahmen bereits vor Eintritt von offensichtlichen Schadensbildern getroffen werden können.