610 Medizin und Gesundheit
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Genome-Editing und Einzelzellanalyse sind zwei bahnbrechende biotechnologische Methoden, die die gesamte Bandbreite der lebenswissenschaftlichen Forschung und Anwendung verändert und erweitert haben. Beide waren bereits Gegenstand eigenständiger Publikationen der IAG Gentechnologiebericht.1 Sie werden in diesem Kapitel in ihren Grundzügen und ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Gentechnologien vorgestellt sowie die ethischen und rechtlichen Kontroversen um sie skizziert. Zunächst geht es um die wissenschaftlichen Grundlagen des Genome-Editing, womit Verfahren bezeichnet werden, durch die gezielt und relativ präzise Basenabfolgen im Genom lebender Zellen verändert werden können. Unter den „Genscheren“ wird das CRISPR/Cas-System mit Blick auf seine Funktionsweise, Entdeckungsgeschichte und Weiterentwicklung vorgestellt. Danach werden ethische und rechtliche Kontroversen um genomeditierte Pflanzen und den Einsatz des Genome-Editing in der menschlichen Keimbahn diskutiert. Zentraler Streitpunkt beim Einsatz von Genome-Editing in Pflanzenzüchtung und Landwirtschaft ist die regulatorische Frage, ob mittels Genome-Editing erzeugte Pflanzen, die lediglich punktuelle, schwer nachweisbare Mutationen und keine Fremdgene enthalten, als gentechnisch veränderte Organismen im Sinne des Gentechnikrechts gelten sollten – wie der EU-Gerichtshof 2018 entschied – oder nicht. Im Anschluss geht es um die ethischen und rechtlichen Aspekte von Keimbahnmodifikationen, also von auf alle folgenden Generationen vererbbaren Eingriffen in das menschliche Erbgut, die entweder therapeutischen bzw. präventiven Zwecken dienen können oder aber dem sog. Enhancement, also der Steigerung von Fähigkeiten oder der Erzeugung bestimmter Eigenschaften. Auch hier werden Pro- und Kontra-Argumente erörtert und die Prinzipien und Empfehlungen verschiedener Stellungnahmen skizziert. Der erste Teil des Kapitels schließt mit dem Fall der 2018 geborenen chinesischen Zwillingsmädchen, deren Erbgut durch Genome-Editing verändert worden war.
Der zweite Teil stellt die Einzelzellanalyse vor mit Blick auf ihre Funktionsweise, den gegenwärtigen Forschungsstand und ihr Potenzial für Anwendungen in biologischer Forschung und Medizin. Durch die Einzelzellanalyse gewinnbare Daten über einzelne Zellen gewähren einen zuvor unerreichbaren Einblick in deren Funktionsweise innerhalb von Geweben bzw. Zellpopulationen. Ermöglicht wurde dies durch technologische Entwicklungen wie Next-Generation-Sequencing und Omics-Technologien, die komplexe Vorgänge in Zellen erschließen. Weitere Schritte auf dem Weg zu einer personalisierten Medizin könnten durch neue Möglichkeiten der Untersuchung patientenspezifischer Tumore, zellulärer Veränderungen bei chronischen Erkrankungen und das Ansprechen bestimmter Zellen auf Medikamente zurückgelegt werden. Der Vergleich der Zellen Erkrankter mit denen Gesunder gibt Aufschluss über individuelle Krankheitshintergründe. Die komplexen und umfangreichen Daten der Einzelzellanalytik stellen hohe Ansprüche an den technischen Umgang mit und Austausch von ihnen und ihre Interpretation sowie an Datensicherheit und Datensouveränität.
Das Kapitel von Karla Alex und Eva C. Winkler gibt einen Einblick in die vielfältigen ethischen Debatten zu Genetik und Epigenetik. Ein wichtiges Anliegen ist dabei, auf die Notwendigkeit einer kritischen Reflexion expliziter, viel öfter aber impliziter, -ismen innerhalb des Diskurses sowohl zur Epigenetik als auch zur Genetik und Genomeditierung aufmerksam zu machen. Untersucht werden zunächst die folgenden Konzepte („-ismen“), die in unterschiedlichen Diskursbereichen – Wissenschaft, Populärwissenschaft, Gesellschaft, Ethik – unterschiedlich stark ausgeprägt sind: genetischer Essentialismus und starker genetischer Determinismus, verdeckter Gendeterminismus und epigenetischer Determinismus sowie genetischer Exzeptionalismus und epigenetischer Exzeptionalismus.
Beim genetischen Essentialismus wird angenommen, dass der Genotyp den Phänotyp und das gesamte Wesen eines Menschen, seine Essenz, vollständig determiniere. Als starker genetischer Determinismus gilt die Annahme, dass ein Gen fast immer zur Ausprägung eines bestimmten Merkmals führe. Beide Positionen werden innerhalb der Wissenschaftsphilosophie und -ethik zurückgewiesen. Auch moderatere oder schwächere Formen des genetischen Determinismus, die lediglich davon ausgehen, dass ein Gen manchmal zur Ausprägung bestimmter Merkmale führe, können den Autorinnen zufolge, obgleich naturwissenschaftlich korrekt, aus ethischer Sicht problematisch werden, wenn sie um weitere Annahmen ergänzt werden. Als epigenetischen Determinismus bezeichnen sie die Annahme, dass durch Einwirkungen auf die Umweltbedingungen Personen selbst beeinflussen könnten, wann ein Gen zur Ausprägung jener bestimmten Merkmale führe, und diese epigenetische Prägung der Gene dann ggf. auch an zukünftige Generationen weitergegeben werden könne. Daraus werde häufig eine Verantwortung zur bewussten Einflussnahme auf das eigene Epigenom und das Epigenom zukünftiger Generationen abgeleitet. Diskutiert wird zudem die Idee, dass genetische und unter Umständen auch epigenetische Daten von Personen oder Bevölkerungsgruppen einen besonderen rechtlichen Schutz genießen sollten, welche auch als genetischer oder epigenetischer Exzeptionalismus bezeichnet werde.
Im Anschluss widmen sich die Autorinnen der ethischen Analyse von Genomeditierung und Epigenetik. Dabei wird der ethische Diskurs zu Epigenetik und Genomeditierung nachgezeichnet und es werden Überschneidungen und Differenzen anhand zentraler Aspekte aufgezeigt. In den Fokus genommen werden dabei v. a. Konzepte von Vererbung und Verantwortung, Gerechtigkeit und Sicherheit, die Problematik der Zustimmung/Einwilligung (consent) und Auswirkungen auf Embryonen und zukünftige Generationen. Diese Schwerpunktsetzung hänge auch damit zusammen, dass momentan das Thema Keimbahneingriffe (also vererbbare Eingriffe) durch Genomeditierung an menschlichen Embryonen besonders intensiv diskutiert werde.
Patienten und Patientinnen setzen große Hoffnungen in Stammzellen zur Behandlung von schwersten und bisher nicht oder nur ungenügend therapierbaren Erkrankungen. Was aber sind Stammzellen? Wo steht die Stammzellforschung international und mit Blick auf Deutschland heute? Was ist in Deutschland im internationalen Vergleich erlaubt? Der Sammelband der Interdisziplinären Arbeitsgruppe Gentechnologiebericht der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften stellt den aktuellen Sachstand vor und diskutiert auch ethische, rechtliche und ökonomische Aspekte der Stammzellforschung sowie die medizinische Umsetzung der Ergebnisse. Die bewährte sozialwissenschaftlich motivierte Indikatorenanalyse der interdisziplinären Arbeitsgruppe rundet den Band ab.