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Das Kapitel von Karla Alex und Eva C. Winkler gibt einen Einblick in die vielfältigen ethischen Debatten zu Genetik und Epigenetik. Ein wichtiges Anliegen ist dabei, auf die Notwendigkeit einer kritischen Reflexion expliziter, viel öfter aber impliziter, -ismen innerhalb des Diskurses sowohl zur Epigenetik als auch zur Genetik und Genomeditierung aufmerksam zu machen. Untersucht werden zunächst die folgenden Konzepte („-ismen“), die in unterschiedlichen Diskursbereichen – Wissenschaft, Populärwissenschaft, Gesellschaft, Ethik – unterschiedlich stark ausgeprägt sind: genetischer Essentialismus und starker genetischer Determinismus, verdeckter Gendeterminismus und epigenetischer Determinismus sowie genetischer Exzeptionalismus und epigenetischer Exzeptionalismus.
Beim genetischen Essentialismus wird angenommen, dass der Genotyp den Phänotyp und das gesamte Wesen eines Menschen, seine Essenz, vollständig determiniere. Als starker genetischer Determinismus gilt die Annahme, dass ein Gen fast immer zur Ausprägung eines bestimmten Merkmals führe. Beide Positionen werden innerhalb der Wissenschaftsphilosophie und -ethik zurückgewiesen. Auch moderatere oder schwächere Formen des genetischen Determinismus, die lediglich davon ausgehen, dass ein Gen manchmal zur Ausprägung bestimmter Merkmale führe, können den Autorinnen zufolge, obgleich naturwissenschaftlich korrekt, aus ethischer Sicht problematisch werden, wenn sie um weitere Annahmen ergänzt werden. Als epigenetischen Determinismus bezeichnen sie die Annahme, dass durch Einwirkungen auf die Umweltbedingungen Personen selbst beeinflussen könnten, wann ein Gen zur Ausprägung jener bestimmten Merkmale führe, und diese epigenetische Prägung der Gene dann ggf. auch an zukünftige Generationen weitergegeben werden könne. Daraus werde häufig eine Verantwortung zur bewussten Einflussnahme auf das eigene Epigenom und das Epigenom zukünftiger Generationen abgeleitet. Diskutiert wird zudem die Idee, dass genetische und unter Umständen auch epigenetische Daten von Personen oder Bevölkerungsgruppen einen besonderen rechtlichen Schutz genießen sollten, welche auch als genetischer oder epigenetischer Exzeptionalismus bezeichnet werde.
Im Anschluss widmen sich die Autorinnen der ethischen Analyse von Genomeditierung und Epigenetik. Dabei wird der ethische Diskurs zu Epigenetik und Genomeditierung nachgezeichnet und es werden Überschneidungen und Differenzen anhand zentraler Aspekte aufgezeigt. In den Fokus genommen werden dabei v. a. Konzepte von Vererbung und Verantwortung, Gerechtigkeit und Sicherheit, die Problematik der Zustimmung/Einwilligung (consent) und Auswirkungen auf Embryonen und zukünftige Generationen. Diese Schwerpunktsetzung hänge auch damit zusammen, dass momentan das Thema Keimbahneingriffe (also vererbbare Eingriffe) durch Genomeditierung an menschlichen Embryonen besonders intensiv diskutiert werde.
In ihrem kommunikationswissenschaftlichen Spotlight stellt Annette Leßmöllmann das von ihr mit durchgeführte „Bürgerdelphi Keimbahntherapie“ mit Blick auf dessen Ziele, Methoden, Ergebnisse und Potenziale für eine transparente Einbeziehung von Bürger*innen in Beratungs- und Entscheidungsfindungsprozesse vor. Das Bürgerdelphi ist ein Bürger*innenbeteiligungsverfahren, das zum einen die Teilnehmenden dazu befähigen sollte, sich zu dem Thema des Einsatzes der Genschere CRISPR/Cas in der menschlichen Keimbahn ein informiertes ethisches Urteil zu bilden, zum anderen waren das Verfahren und damit auch die Teilnehmenden selbst Forschungsgegenstand der Organisator*innen, bspw. mit Blick auf Kommunikationswege, Argumentationsformen und Qualität des Beteiligungsprojektes. Ein wesentliches Element des Verfahrens sei die eigenständige, expertengestützte Erarbeitung der zentralen Leitfragen seitens der Teilnehmenden gewesen. Diese betrafen die Legitimität, Regulierungsmöglichkeiten und Missbrauchsgefahr des Einsatzes der Keimbahntherapie. Die Ergebnisse der hauptsächlich online bzw. online und telefonisch durchgeführten Diskussionen seien in Form einer Stellungnahme auch Politiker*innen und Teilnehmenden der öffentlichen Abschlussveranstaltung sowie Studierenden im Rahmen einer Lehrveranstaltung zugänglich gemacht worden.
Der Beitrag von Jochen Taupitz befasst sich mit dem rechtlichen Status von Hirnorganoiden im Kontext des deutschen Rechts. Hirnorganoide sind Organoide, die verschiedene Regionen des Gehirns außerhalb des Körpers in dreidimensionaler Zellkultur näherungsweise nachbilden. Spezielle Rechtsregeln zur Herstellung und Verwendung von Hirnorganoiden existieren dem Autor zufolge in Deutschland nicht, ebenso wenig wie zu Organoiden im Allgemeinen. Ihre juristische Einordnung habe, wie diejenige anderer menschlicher Zellen, Gewebe und Organe, mehrere Regelungsbereiche in den Blick zu nehmen. Diese betreffen die Herkunft bzw. Gewinnung des Ausgangsmaterials, die Einordnung der Organoide selbst und die Art und Weise ihrer (geplanten) Verwendung. Aufgrund der großen – auch anthropologischen – Bedeutung, die dem menschlichen Gehirn beigemessen werde, sei eine angemessene Aufklärung und Einwilligung der etwaigen Spender*innen von Ausgangszellen, soweit diese für die Herstellung von Hirnorganoiden verwendet werden, erforderlich. Dies gelte auch für eine Übertragung der hergestellten Hirnorganoide auf (andere) Patient*innen. Der Autor diskutiert die verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen unter Betonung ihres freiheitlichen Ausgangspunktes, der eine Begründung nicht der Freiheit, sondern etwaiger Einschränkungen erforderlich mache. Im Kontext von Hirnorganoiden betreffe dies u. a. die Wissenschaftsfreiheit, die Menschenwürde und die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die letztgenannten Grundrechte seien in erster Linie Abwehrrechte, konkret vor allem der Spender*innen der für die Hirnorganoide verwendeten Zellen. Aus ihnen folge bezogen auf (zukünftige), von Hirnorganoiden gesundheitlich eventuell profitierende Patient*innen aber auch, dass der Staat nicht ohne hinreichenden Grund z. B. therapeutische Maßnahmen verbieten dürfe.
Fruzsina Molnár-Gábor und Andreas Merk analysieren in ihrem Spotlight die datenschutzrechtliche Beurteilung von Neurodaten mit Fokus auf medizinische Anwendungen. Neurodaten werden durch Messung von Signalen im Gehirn erhoben und als personenbezogene, aufgrund ihrer Aussagekraft über mentale Prozesse und kognitive Fähigkeiten sowie ggf. handlungsrelevante Muster und Strukturen des Denkens äußerst sensible Daten dargestellt. Ihr prädiktives Potenzial sei mit dem genetischer Daten vergleichbar, aber stärker von informationellen Unsicherheiten geprägt und aufgrund von Interaktionsmöglichkeiten durch Gehirn-Computerschnittstellen direkt nutzbar. Der Chance auf größere Autonomie von Patient*innen durch neurotechnische Geräte wie z. B. digitale Sprechermöglichung, stellen die Autorin und der Autor die Gefahr einer „schleichenden Aushöhlung der Selbstbestimmung“ (S. 362) und Risiken der psychischen und physischen Integrität sowie Kommunikations- und Interaktionsfähigkeit gegenüber.
Im zweiten Teil des Beitrags werden spezifische Herausforderungen der
informierten Einwilligung, insbesondere die Erfüllung von Aufklärungspflichten, eine geeignete Rechtsgrundlage für die Datenverarbeitung sowie der Umgang mit dabei entstehenden neuen Informationen und Prädiktionsmöglichkeiten, diskutiert.
Fruzsina Molnár-Gábor und Andreas Merk fokussieren insbesondere auf die mit den Eigenschaften von Neurodaten einhergehenden Herausforderungen für Kontrollmöglichkeiten der Datenverarbeitung, das Recht auf Vergessen, insbesondere das eigene Vergessen der Daten und Anonymisierung bzw. Pseudonymisierung.
Abschließend fordern sie dazu auf, kontextbezogene Verarbeitungsregeln
für einen datenschutzkonformen Umgang mit Neurodaten sowie ein
Konzept der Informations-Governance zu erstellen.
Dieses Kapitel beleuchtet die Voraussetzungen, die Chancen, beobachtbaren Entwicklungen und ethischen Herausforderungen einer Medizin, die als personalisierte Medizin, Systemmedizin oder Präzisionsmedizin bezeichnet wird und wesentlich auf der Idee basiert, alle gesundheitsrelevanten Daten einer Person so zu erfassen, dass Prävention, Diagnose und Therapie stärker auf die individuellen biologischen Eigenschaften dieser Person zugeschnitten werden können. Hierfür werden zunächst die zentralen Begriffe ‚Big Data‘ und ‚personalisierte Medizin‘, sowie ihre Verwendung und Begriffsgeschichte eingeführt (Abschnitt 17.1 und 17.2). Gerade weil einerseits Daten und Wissen aus beiden Handlungsfeldern – Forschung und Gesundheitsversorgung – für eine datenintensive und personalisierte Medizin systematisch zusammengeführt werden sollen und andererseits unterschiedliche Prinzipien in der ärztlichen Ethik und Forschungsethik handlungsleitend sind, stellen sich hier wichtige ethische Fragen (Abschnitt 17.3): Etwa nach dem Umgang mit Zufallsbefunden, nach der Verantwortung von Forscher*innen für den Schutz der Privatsphäre der Patient*innen oder nach den Möglichkeiten einer ausreichend informierten Einwilligung. Deutlich wird hierbei, dass, neben den individuellen Kontrollmöglichkeiten über Daten, die Anforderungen an eine transparente und rechenschaftspflichtige Daten-Governance, also an die Lenkung und Aufsicht der Datennutzung, immer wichtiger werden (Abschnitt 17.4). Diese wird zum einen im Rückgriff auf das Konzept einer solidarischen Datennutzung mit Blick auf notwendige Regeln der Daten-Governance ausgeführt (Abschnitt 17.4.1). Zum anderen wird im Abschnitt 17.4.2 gefragt, inwiefern eine moralische Hilfspflicht begründet werden kann, individuelle klinische Daten der Forschung zur Verfügung zu stellen. Verschiedene Möglichkeiten, persönliche Daten für die Forschung freizugeben, werden in Abschnitt 17.4.3 vorgestellt – insbesondere am Beispiel der sogenannten ‚Datenspende‘. Zuletzt (Abschnitt 17.5) werden die Konzepte der Selbstermächtigung (Empowerment) und der Partizipation von Patient*innen, die im Zusammenhang mit datenintensiver Forschung immer häufiger diskutiert werden, kritisch in den Blick genommen. Statt einer inflationären Anwendung dieser Begriffe auf alle Praktiken, in denen Patient*innen aktiv etwas beitragen, wird dargelegt, wie Formen von Patient*innenbeteiligung gefördert werden können, die den Handlungsraum der Menschen sinnvoll erweitern.
Wohin mit uns?
(2021)
Jährlich erkranken etwa 16.500 junge Menschen im Alter von 18–39 Jahren an Krebs. Und so wenig, wie man selbst darauf vorbereitet ist, so wenig ist es die Gesellschaft an sich. Mich traf es das erste Mal mit 26 Jahren. Zu diesem Zeitpunkt befand ich mich in der Vorbereitung auf das zweite Staatsexamen der Humanmedizin. Einer längeren Phase mit Infekten folgte schließlich eine auffällige Bildgebung und eine Woche vor dem Examen dann eine OP am Brustkorb, um Lymphgewebe zur Diagnostik zu gewinnen. Am zweiten Tag des Examens erfuhr ich, dass es tatsächlich Krebs war – und genau eine Woche später begann schon die Therapie. Das Examen wollte ich unbedingt schreiben, da ich nicht auch noch ein halbes Jahr an Vorbereitung einfach verlieren wollte, und bin froh, dass ich es geschafft habe. Diese erste Therapie habe ich psychisch sehr gut verkraftet und es ist mir eher zugutegekommen, selbst Mediziner zu sein, da ichwusste, dass die Prognose sehr gut war. Was ich nicht wusste: dass man als Student keinerlei finanzielle Absicherung im Krankheitsfall hat. BAföG bekam ich nie, es würde aber eh nach drei Monaten ausgesetzt werden und Anspruch auf ein Krankengeld besteht als Student nicht – man fällt also auf Hartz IV bzw. Sozialhilfe oder hat das Glück, dass man von den Eltern unterstützt wird. In meinem Fall Letzteres. Aber ich habe über meine Erkrankung andere Betroffene kennengelernt, die akut in existenzielle Nöte geraten sind – ich finde das unerträglich und doch ist es eine Realität in Deutschland.
Ein Teil der Gemeinschaft
(2021)
Keine Regionalgruppe vor Ort? Dann gründe ich halt eine – fand eine Betroffene mit Lupus erythematodes. Ein Erfahrungsbericht. Im Jahr 2000 bekam ich im Alter von 28 Jahren die Diagnose „Systemischer Lupus erythematodes“ (SLE) – mit Beteiligungen der Haut, des Zentralen Nervensystems, der Niere und des Herzens. Im Krankenhaus bekam ich zwar Informationen zur weiteren Therapie, nicht aber elementare Informationen über die Krankheit. Weil ich noch kein Internet hatte, ging ich in die Bibliothek und fand nach einigem Suchen auch ein medizinisches Nachschlagewerk aus den 60er Jahren. Darin wurde einiges über die Krankheit erklärt, auch, dass meine Lebenserwartung nur bei drei bis fünf Jahren liegen würde.
Ich stand im Badezimmer und hatte plötzlich das Gefühl, doppelt zu sehen. Beunruhigt ging ich zum Arzt, der mich gleich in die Klinik weiterleitete: Ich hatte einen kurzen Schlaganfall erlitten, dessen Folgen anschließend nicht mehr festgestellt werden konnten. Was die Ärzte bei den Tests aber sehr wohl sahen: Mein Blutdruck war erhöht, wenn auch nur leicht. Und das, obwohl ich mich doch einmal pro Woche im Sportverein fit hielt. Aber es reichte nicht, das wurde mir klar. Und ich beschloss, etwas zu ändern.
Jahrelang wurde ich von einem Facharzt zum anderen geschickt. Mein Körper spielt mit mir Katz und Maus – er stellt schubweise wichtige Organfunktionen ein und zwingt mich dadurch zwischenzeitlich sogar in den Rollstuhl. Ich bin ein menschliches Stehaufmännchen geworden und begreife, dass die „Götter in Weiß“ auch nur Menschen sind und ratlos meinem Zustand gegenüberstehen. Pillen und Spritzen missbilligtmein Körper und reagiert mit allergischen Schocks. Die meisten Ärzte werfen das Handtuch, wenn ich als Patient nicht in die Schublade passe, die das Krankheitsbild ihnen scheinbar vorgibt. Oft werde ich wie eine Außerirdische bestaunt – nur um zu guter Letzt in die Psychoschiene geschoben zu werden.
Als ich im Januar 2018 nach Potsdam zog, war ich hoch motiviert: Mein Studium hatte ich erfolgreich beendet und nun musste ich nur noch die letzte Hürde überwinden, um meinen Traumberuf Grundschullehrerin zu erreichen: das Referendariat. Fünf Tage hat es gedauert, bis sich mein Leben ändern sollte. In meinem WG-Zimmer voller Umzugskartons ertastete ich eines Abends eine Verhärtung in meiner Brust. Zwei Tage später hatte ich einen Termin bei einem Gynäkologen. Im Ultraschall sah man einen Tumor von etwa 1,5 cm Größe, der abgeklärt werden musste. „Machen Sie sich keine großen Sorgen. Ich hatte noch nie eine Patientin in ihrem Alter, bei der es etwas Bösartiges war.“ Mit diesen Worten verabschiedetet mich der Mediziner.